Die Regierung (v)erklärt sich: Gutes Leben für alle!

Merkel verkündet in ihrer Regierungserklärung vom 29.01.2014 vor dem 18. Deutschen Bundestag (aufgrund ihrer Hüftprobleme nach missglücktem Ski-Auslauf diesmal: nicht) aus dem Stand, dass sie „die Quellen guten Lebens allen zugänglich machen“ will…

Quelle: picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini

Ihr könntet dem Autor jetzt (verständlicherweise) mit Vorwürfen wie „aus dem Zusammenhang gerissen“ kommen. Zugegeben: selten ist das gänzlich von der Hand zu weisen. Mit selbiger Hand sei hier jedoch darauf hingewiesen, dass diese (nahezu abschließende) Formulierung Merkels eine gewohnt schwammige wie doch bemerkenswerte ist und von ihr in Bezug zu den zu ihrem Glück vereinten Deutschen wie Europäern gesetzt wurde. Den derart beschriebenen Beitrag der Regierung zum Schutz dieses Glückes verbindet Merkel in der Rede dann mit besagter Quellenoffenheit (quasi: The Good Life as an Open Source).

Woraus speist es sich nun, jenes „gute Leben“, zu dem die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland uns allen (wem eigentlich genau: den „Deutschen“ und/oder „Europäern“ – oder tatsächlich „allen“?) Zugang verschaffen möchte? Dem Text können wir „Freiheit, politische Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Stärke, Gerechtigkeit“ entnehmen. Ein „gutes Leben“ wäre demnach also ein freies, politisch stabiles, rechtssicheres, wirtschaftlich starkes und gerechtes – wer könnte ernsthaft etwas gegen ein solches Leben einwenden!

Quelle: dpa

Es wäre zu viel gesagt/geschrieben, dass dieser Blogeintrag als ein dagegen gerichteter Einwand verstanden werden soll.
Mit dieser Regierungser- (oder besser:) -verklärung hat uns Kanzlerin Merkel in einem (gewohntermaßen) wenig mitreißenden Wort(wasser)schwall durch den rautenförmigen Hahn zwischen ihren Handflächen erneut ein rhetorisches Schaumbad ein-, uns mit Wohlfühl(-seifen-/-sprech-)blasen im lauwarmen Wasser sitzen gelassen. Da wurde (unfallbedingt und daher erwartungsgemäß) nicht aus der (auch nicht: sprichwörtlichen) Hüfte geschossen, sie übte eine – ihr im 9. Jahr ihrer KanzlerInnenschaft sicher irgendwie auch gebührlich erscheinende – (Regierungs-)Sitzhaltung ein. Aus dieser heraus begann sie mit einer Würdigung der „viele[n] Menschen in der Ukraine„, bei denen kein Wille der Abkehr von Europa zu erkennen sei. Auch sprach sie vom „kranke[n] Mann Europas“ (und meinte das sozial marktwirtschaftende Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts), der sich 10 Jahre später als „Wachstumsmotor“ und „Stabilitätsanker“ herausgestellt habe. Aus einem erkrankten deutschen „Mann“ wurde also in nur 10 Jahren eine motorisierende Maschine oder (wahlweise) ein gewichtiges Objekt, dass Wasserfahrzeuge an den Grund kettet. Es folgten noch einige Beteuerungen, dass „nicht […] Staat, nicht Verbände, nicht Partikularinteressen, sondern […] Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns“ (d.h. des Handelns der Politik) rücken würden (wenn sie dort nicht gar schon stünden).

Worauf soll dieser Beitrag nun hinauslaufen – außer auf ein sarkatisches Abkanzeln der Merkel’schen Regierungs(v)erklärung vom 29.01.2014? Wir könnten das sogenannte „gute Leben“ abseits der o.g. fünf Zuschreibungen, welche die Kanzlerin hineinlegte, in den Blick nehmen – so wie in diesem entsprechend benannten Blog. Oder wir blicken noch kurz hinter die Wortkulissen, die uns von der Deutschland (so zumindest ihrem Amtseid entnehmbar) Dienenden da hingestellt wurden.

  • Freiheit: Wenn sie nicht allein „den Markt“ charakterisieren soll, gegenüber dem Demokratie Konformität an den Tag legen solle, dann meint sie in Merkels „Neuland“ jedenfalls nicht die Freiheit, fern von staatlicher (inkl. outgesourcter) Überwachung mobil und virtuell zu kommunizieren. Hier zeigt sie eher (machtloses?) Verständnis gegenüber britischen und US-amerikanischen Geheimdiensten als ihre dienenden Qualitäten „alle[…n] in Deutschland lebenden Menschen“ angedeihen zu lassen. Und wenn doch Freiheit: dann wozu? Zum wachstumsabsichernden Konsum? Zur unaufhaltsam produktivitätsgesteigerten Arbeitnehmerschaft bis zur Rentenlosigkeit? Aus dem global aufdringlichen Neoliberalismus einen umfassenden (gar noch: neuen!) Freiheitsbegriff herausschälen zu wollen,  Die Freiheit liegt nicht in der Pluralität der Biografien oder in der Wahl des Wohnortes – echte Wahlfreiheit abseits (spät-)kapitalistischer Kategorien werden wir uns im Rahmen unserer immer ausgedehnteren Handlungsspielräume erarbeitet haben. Nichts ist „alternativlos“ – eine zugleich wachstumsverherrlichende und menschenverachtende Wirtschaftsordnung und eine sukzessive entwerteten Sozialordnung schon einmal gar nicht! Eine Gemeinwohlökonomie und ein solidarisches Sozialsystem warten darauf, von uns umgesetzt bzw. wiederbelebt zu werden!
  • Politische Stabilität: Das ist kein Wert an sich. In der von Merkel thematisierten Ukraine wird derzeit ebenso um „politische Stabilität“ gerungen wie in Ägypten, Mali, dem Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik oder in Somalia. Es geht dabei um das Wie. In einer „Großen Koalition“ mit 80-prozentigen Mehrheitsverhältnissen fällt es ausgesprochen leicht, von stabilen politischen Verhältnissen zu sprechen. Demokratie ist mehr als Repräsentation, Wahlverfahren, die sich letztlich alle um Papiere in Urnen drehen, und Abstimmungsergebnissen in „Hohen Häusern“ – sie lebt von Diskussion, Opposition, Beteiligung, einem Ringen um allgemein gültig Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens. Eine Kanzlerin, die drei Amtszeiten hinter sich hat, legt ganz sicher viel Wert auf eine Politik der Stabilität – zur Not kann sie auch inhaltsleer und im Stillstand befindlich sein. Wir werden andere politische Aushandlungsprozesse im sog. „Kleinen“ bemüht haben und werden auch zu anderen Entscheidungen gekommen sein. Alles andere wäre zwar politisch und vielleicht auch stabil – „gutes Leben“ bedeutet jedoch sicher mehr als das! Es impliziert auch den Widerstand gegen zukunftsabgewandte politische Entscheidungen!
  • Rechtsstaatlichkeit: Das Recht bindet uns formal alle – die Staatsgewalt erfährt dies v.a. durch die Grundrechte. Ein Grundgesetz, dass die Würde jedes/r Einzelnen als „unantastbar“ festschreibt, stellt noch nicht sicher, dass wir nicht dennoch – auch ohne physische Berührung – herabgewürdigt werden. Wo das Recht den/die eine/n bindet und den/die andere/n ungebunden handeln lässt, stehen wir systemisch an einer Schwelle. Dass vor dem Gesetz jede/r gleich sei (ein weiteres dieser Grundrechte), vermag die Realität – ja, auch in Deutschland – nicht zweifelsfrei zu beweisen. Grenzübergreifende Konzernstrukturen fühlen sich offenkundig nicht an das in den jeweiligen – zu „Absatzmärkten“ degradierten – Staatsgebieten geltende (Umwelt-/Sozial- oder auch nur: Steuer-)Recht gebunden, wenn sie doch die Wahl zu haben scheinen, welches dieser Gebiete ihren Interessen am dienlichsten ist. „Informationelle Selbstbestimmung„, aus besagten Grundrechten ableitbar, schützt die ebenfalls besagte Staatsgewalt nachweislich nicht (mehr). Das ein wie auch immer vorstellbares „gutes Leben“ erst durch rechtlichen Schutz auch zu einem solchen wird, ist anzunehmen. Wir werden den (Menschen-)Rechten vielleicht nicht in absehbarer Zeit zu ihrem universalen Anspruch, wohl aber zu der notwendigen (und ihr durchaus eigenen) Durchsetzungskraft gegenüber einseitig bereichernden Wirtschaftsinteressen verholfen haben – dort, wo wir Einfluss gewonnen und genommen haben werden!
  • Wirtschaftliche Stärke: Wo vor allem (Wirtschafts-)Leistung über Wohlstand oder Armut entscheidet, kann Konkurrenz als unausweichlich erscheinen. Niederlage, Unterlegenheit, Scheitern ist somit vorgesehen – aber bitte auf der Seite des/der jeweils Anderen! Eine starke Wirtschaft soll uns allen nach den Worten der deutschen Kanzlerin die Güte in unser Leben holen – sie meint wohl doch eher die Güter. Ökonomie beschreibt laut einer sicher nahezu allseits bekannten Online-Enzyklopädie „alle[…] personelle[…n] und materielle[…n] Aufwendungen und Erträge, die dazu dienen, den Unterhalt des Menschen zu sichern“ – beispielhaft werden u.a. Ackerbau und Handel angeführt. Die Frage lautet also letztlich: Was brauchen wir an Aufwendungen und Erträgen, um unseren (Lebens-)unterhalt „gut“ bestreiten zu können? Unhinterfragter Konsum zum immer niedrigeren (zumindest: aufgedruckten) Preis? Welches wirtschaftliche Handeln wird be- bzw. „gut“ entlohnt: Spekulative globale Geschäfte mit Zahlenreihen (die leider reale Entsprechungen besitzen), die nur noch von Supercomputern in Millisekunden bewältigt werden oder doch handwerkliche Tätigkeiten und Dienstleistungen am/mit Menschen vor Ort? Wie hoch müssen die (geldwerten?) Erträge (Profite?) sein, um das Wirtschaften lohnenswert erscheinen zu lassen? Sind soziale Erträge denkbar, vielleicht gar wertvoller? Eine Wachstumsphase bei begrenzten Ressourcen dauert zwangsläufig nicht unbegrenzt an – zu dieser Einsicht werden wir entweder demnächst selbsttätig denkend kommen oder sie wird sich uns aufdrängen. Wir werden uns gegen ein vermeintliches (Vor-)Recht des wirtschaftlich Stärkeren entschieden, Verzicht geübt und damit eine lebenswerte Zukunft auf einem seiner ihm von uns vormals zugeschriebenen Rolle als auszubeutender Rohstofflieferant entwachsenen Planeten haben!
  • Gerechtigkeit: Dieses vielfach bemühte feminine Substantiv durfte als Anspruch der Regierung einer rechts- und (ja: auch) sozialstaatlich verfassten Bundesrepublik selbstredend nicht fehlen. Die Frage nach dem, was „gerecht“ ist, kann mindestens so ausufern wie die nach dem „guten Leben“, welche am Anfang stand. Ein „sozialer“ Aspekt wurde der „Gerechtigkeit“ von Merkel schon einmal nicht vorangestellt. Ist es beispielsweise gerecht, dass Frauen generell weniger verdienen als Männer oder LeiharbeiterInnen bei gleicher Arbeit weniger als das Stammpersonal? Dass sie allzu oft auf Leistungsgerechtigkeit reduziert und zu selten als „Bedarfsgerechtigkeit“ aufgefasst wird? Dass „Chancengerechtigkeit“ (von CDU-Bildungspolitikern etabliert, parteiübergreifend dankbar aufgegriffen) nicht schicht- oder milieuunabhängige „Chancengleichheit meint und damit alles andere als „sozial gerecht“ ausfallen kann? Dass sich Menschen im Globalen Norden in andauernden (neo-)kolonialen Verhältnissen zum Globalen Süden eingerichtet haben, weil es so einseitig komfort-/profitabel ist? Dass nur der/dem Gerechtigkeit zugutekommt, die/der genug materielle Aufwendungen aufzubringen vermag, um dafür vor Gericht mit entsprechender personeller rechtlicher Hilfestellung zu „seinem/ihrem Recht“ zu kommen. Ein solches Recht (zumindest: wenn jede/r „gleichermaßen“ dazu kommt) ist für den Duden bei der Definition von Gerechtigkeit immerhin entscheidend. Wir werden uns unmittelbar gerechteren zwischenmenschlichen Verhältnissen angenähert haben – sobald wir unsere Verantwortung für unser Handeln in unseren (weiter ausbaufähigen) Handlungsspielräumen ergriffen haben werden!

 

Am Ende dieses Blogbeitrags stehen wir idealerweise an der Schwelle zur alternativen Formulierung von Formen „guten Lebens“, die wir – selbst denkend und widerständig – jener sprech(-auf-)geblasenen Regierungs(-absichts-)erklärung der physikalisch bedoktortitelten Angela Merkel handlungsaufgeräumt und veränderungswillig entgegensetzt haben werden! Werdet ihr mit uns die Schwelle übertreten haben?

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